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Lütge Gunhild. Chaos vor dem Sturm - Machtkampf unter den PC-Herstellern

Chaos vor dem Sturm (aus Zeit KW 51/1991)


Unter den PC-Herstellern tobt ein spektakulärer Machtkampf
Von Gunhild Lütge


Wenn Videospieler nicht mehr vor dem Bildschirm hocken, sondern in einem virtuellen Raum mit Monstern kämpfen oder Autoverkäufer ihre potentiellen Kunden demnächst in einem Wagen einsteigen lassen, von dem es noch nicht einmal einen Prototyp gibt, dann steckt Cyberspace dahinter: der Raum, der aus dem Rechner kommt.
Computer, ein mit Sensoren bestückter Datenhandschuh sowie eine Mischung aus Helm und Brille, die mit Spezialmonitoren ausgestattet ist, täuschen das Gehirn so perfekt, daß der Zutritt zu künstlich geschaffenen Welten möglich wird. Erste bescheidene Ansätze gibt es schon. Noch setzt die vorhandene Technik der Phantasie ihrer Entwickler Grenzen.
Multimedia heißt das neue Schlagwort, mit dem die Computerindustrie ihre Visionen bereits zu vermarkten beginnt. Schon bald sollen sie sich in bare Münze verwandeln. Zur elektronischen Zu-kunft zählt nicht nur Cyberspace. Die Branche hat sich vorgenommen, Computer in eierlegende Wollmilchsäue zu verwandeln -- Universaltalente für jedes Problem und alle Lebenslagen. Der Grund für die geballte Kreativität: Die erfolgsverwöhnte Industrie steckt in einer tiefen Krise. Sie braucht möglichst schnell neuen Auftrieb. Ansonsten werden etliche Unternehmen ihre Versprechen gar nicht mehr einlösen können. In ihrer Hektik verstricken sich allesamt in einen spektakulären Machtkampf. Mit bisher unvorstellbaren Allianzen und Strategien rüsten sie sich für den erhofften nächsten Boom - nicht alle werden ihn erleben
Besonders hart hat es im abgelaufenen Jahr die etablierten Hersteller von Personalcumputern (PC) getroffen. Immerhin repräsentieren die Kleinen unter den Rechnern mit rund neunzig Milliarden Dollar bereits ein Volumen von fast einem Drittel des gesamten weltweiten Computergeschäfts.


Gebeutelte Superstars

Die amerikanischen Superstars Apple und Compaq kämpfen nach vielen prosperierenden Jahren zum erstenmal mit schrumpfenden Gewinnen. Apple-Chef John Sculley beklagt: "Unser Dilemma ist, daß wir trotz immer geringerer Zuwachsraten immer mehr investieren müssen." Seinen Kollegen, Compaq-Chef und Firmen Mitbegründer Josef R. Canion, kostete das Desaster in diesem Jahr bereits den Job. Der Schock sitzt tief, weil Gewinn und Umsatz der Spitzenreiter auf der Weltrangliste in den Jahren bis 1990 geradezu explodierten. Von null auf eine Milliarde Dollar Umsatz hatten es Compaq und Apple schon in den ersten fünf Jahren ihrer Firmengeschichte gebracht. Sie schienen den Erfolg gepachtet zu haben. Damit ist es jetzt erst einmal vorbei. Gebeutelt hat es selbst den Computer-Champion IBM. Der Rechner-Riese muß um seine Führungsrolle im PC Geschäft fürchten. Im Rahmen der jüngst verkündeten Umstrukturierung des Konzerns nimmt deshalb diese Sparte eine ganz besondere Rolle ein. Noch schneller als alle anderen Bereiche soll die PC-Division durch mehr Eigenständigkeit flottgemacht werden. Dem japanischen Hersteller Nec wurde gar der Start mit den kleinen Rechnern auf dem deutschen Markt verhagelt. Seit April dieses Jahres müht er sich vergeblich, sein ursprüngliches Ziel zu erreichen. Dabei verfügt das Unternehmen als Marktführer bei PC in Japan über ausreichende Erfahrung. Doch selbst die fixe fernöstliche Konkurrenz, die schon so manchen Markt aufgerollt hat, erwischte es in diesem Fall kalt. Kurz nach der Ankündigung der Produkte sei das Preisniveau der elektronischen Ware auf dem deutschen Markt um vierzig Prozent abgestürzt, staunt Oskar Waid, Vizepräsident von Nec Deutschland. Das irritiert selbst seine japanischen Chefs.

Drastischer Preisverfall

Der Grund für derlei Turbulenzen liegt keineswegs in der Abstinenz der Kunden. Es wurden in diesem Jahr mehr PC als jemals zuvor verkauft. Alle eineinhalb Sekunden liefern die Anbieter weltweit ein Gerät aus, hat Manfred Frey vom Marktforschungsinstitut IDC aüsgerechnet. In den Vereinigten Staaten verläufe -- wegen der Konjunkturflaute -- das Mengenwachstum mit 1,6 Prozent zwar derzeit bescheiden, schätzen die IDC-Rechercheure. Aber in Westeuropa und in der Bundesrepublik fällt es mit fast zehn Prozent noch recht stattlich aus. "Trotzdem ist der Wert der abgesetzten Maschinen in der Bundesrepublik um zehn bis fünfzehn Prozent gesunken", so Kurt Dobitsch. Er ist Chef von Compaq Deutschland. Und das heißt für ihn und seine Rivalen: Wegen des drastischen Preisverfalls müssen sie immer mehr Geräte verkaufen, nur um den Umsatz halten zu können.
Gewinner gibt es trotzdem. Es sind Computerketten wie Vobis, Aquarius oder Schmitt Computersysteme. Sie lehren dic PC-Industrie geradezu das Fürchten. Die sogenannten Kistenschieber kaufen alles, was in einem Kleincomputer steckt, in der ganzen Welt ein. Die Preise für die einzelnen Bestandteile fallen fast stündlich", heißt es dazu bei den Discountern. Die Geräte schrauben sie dann selbst zusammen. Die Gehäuse für seine PC: läßt Aquarius-Mitbegründer Winfried Hoffmann beispielsweise in der ehemaligen DDR fertigen. Und mit geradezu phänomenalem Erfolg · entthronte Vobis in diesem Jahr sogar IBM als
Marktführer in der Bundesrepublik. Im Weihnachtsgeschäft sind die Aldis unter den Anbietern für eine weitere Überraschung gut. Zu fast einem Drittel des bisher üblichen Preises verschleudern sie die Spitzenprodukte der jüngsten , PC-Generation. Ihre kundenfreundliche Erste Preispolitik begründen aber alle mit ihrer unbürokratischen Organisation. Selbst der Import aus Billiglohn-Ländern rentiert sich offensichtlich nicht mehr: "Bis die ganze Kiste beim Kunden ankam war der Preis schon um fünfzig Dollar gefallen", weiß Hoffmann. Möglich machte das alles --freilich ohne es zu wollen-- IBM. Als sich der weltgrößte Computerhersteller vor zehn Jahren, nach Apple und anderen, ins quirlige PC-Geschäft wagte, entschloß er sich - ganz gegen seine Gewohnheit -- erstmals nicht für Exklusiventwicklungen aus dem eigenen Hause. Er setzte Technik ein, die auf dem Markt frei verfügbar war. Und dazu zahlten als wichtigste Herzstücke ein Mikroprozessor der amerikanischen Firma Intel und ein Betriebssystem der US-Programmschmiede Microsoft. Fortan wuchs das Trio zu einem unzertrennlichen Gespann zusammen. Heute stecken in rund achtzig Prozent aller installierten PC die Chips mit Intel-Standard und die meisten Anwenderprogramme funktionieren nach den Regeln des Betriebssystems von Microsoft. Aber längst nicht alle Geräte tragen das Label von IBM. Schon ein Jahr nach dem Start bot nämlich auch das gerade gegründete Unternehmen Compaq seine Rechner an, und die waren mit den gleichen Innereien ausgestattet: IBM-kompatibel nennt die Fachwelt das. Die junge Firma entwickelte den Ehrgeiz, bei jeder neuen Chip-Generation dem Marktführer IBM eine Nasenläge voraus zu sein.

Compaq blieb nicht das einzige Unternehmen mit dieser Strategie. Etwa 300 Rivalen buhlen heute weltweit um die Gunst der Kunden. Kein Wunder, daß das Establishment nach neuen Wegen sucht, sich von der Meute der Wettbewerber möglichst schnell abzusetzen. Deshalb gingen sie in diesem Jahr spektakuläre Allianzen ein.
IBM verbündete sich im Juli dieses Jahres mit seinem langhährigen Erzrivalen Apple. Das kreative Unternehmen mit dem angebissenen Apfel im Logo hat sich bisher stets mit eigener Technik wohltuend von dem IBM-Standard abgegrenzt. Compaq schloß hingegen bereits im April einen Pakt mit nahezu dem Rest der Computerwelt, um den beiden paroli zu bieten. ACE (Advanced Computing Enviroment) heißt die Initiative, in der sich neben Compaq auch der zweitgrößte amerikanische Computerbauer Digital Equipment (DEC) sowie alle europäischen, ebenso wie einige japanische Anbieter und Microsoft zusammengesfunden haben. "Insgesamt sind es schon 250 Unternehmen" , so Kurt Dobitsch von Compaq.

Revolution in der Rechnerwelt

Genau wie vor zehn Jahren geht es darum, einen neuen Standard zu kreieren; diesmal für Maschinen, die schon heute als die heißen Kisten der neunziger Jahre gelten. "Nun bricht das zweite Jahrzehnt für den Personalcomputer an", verkündete IBM-Chef John Akers im Oktober. Zusammen mit Apple und dem nach Intel zweitgrößten Prozessor-Hersteller Motorola will IBM diesmal mit hausgemachter Technik auftrumpfen. Die ACE-Initiative setzt ihr Konzept dagegen. Sie plädiert für einen offenen Standard, der nicht von einzelnen Firmen geprägt oder dominiert wird. Und das kommt einer Revolution in der Rechnerwelt gleich, in der bisher der Eigennutz einzelner Wettbewerber stets mehr zählte als die Wünsche der Kunden. Der Machtkampf läuft bereits auf vollen Touren: "Es ist ein Wettlauf mit der Zeit", so Dobitsch. Niemand ist sicher, ob das ACE-Bündnis auf Dauer halten wird. Nach wie vor suchen Einzelgänger -- wie Hewlett Packard oder die Firma Sun -- ihre Chance. IBM hat sich indes mit dem langjährigen Weggefährten Bill Gates, dem Chef von Microsoft, zerstritten. Der muß sich gleichzeitig einer Copyright-Klage von Apple erwehren. Außerdem geriet er ins Visier der amerikanischen Kartellbehörde. Ebenso ist den Wettbewerbshütern Intels Dominanz mittlerweile ein Dorn im Auge. Sowohl IBM/Apple als auch die ACE-Gruppe wollen die Bausteine des Marktführers weiterhin im Programm behalten. Darüber hinaus werden von beiden aber auch zwei neue, rivalisierende Prozessor-Typen propagiert. Alle Chips der nächsten Generation werden so schnell sein, daß auch neue Betriebssysteme nötig sind. Die Superchips mit alter Software zu steuern hieße nämlich, einen Porsche nur im zweiten Gang fahren zu müssen, erklärt Martin Milautzcki von IDC. Die Branche ist also zum Fortschritt verdammt. Für die Kunden derzeit eine schwierige Situation", urteilt Milautzcki, welchen Versprechen sollen sie glauben?" Die Frage, welcher Standard sich durchsetzen wird, ist vor allem für jene industriellen Großkunden wichtig, welche die kleinen Rechner als Netzwerk zum elektronischen Rückgrat ihrer Unternehmen ausbauen wollen. Ihnen nützen die Versprechen nichts, daß die neuen Maschinen künftig nicht nur Sprache verstehen und Handschriften lesen oder gar "singen und tanzen" können, wie jüngst - die seriöse britische Financial Times amüsiert ihren Lesern erklärte. Sie wollen Sicherheit bei ihren Investitionen. Die Branche ist derweil mit sich selbst beschäftigt. Weil die wachsende Kapazität der Pwermaschinen künftig auch genutzt werden will, setzt die Avantgarde auf Multimedia. Wie der Name schon sagt, werden die Systeme nicht nur Zahlen und Texte, sondern auch bunte Videos und klangvolle Töne verarbeiten und speichern können. Noch allerdings tut man sich schwer, die Fähigkeiten der elektronischen Alleskönner zu beschreiben. Ein amerikanischer Fachmann wählte auf einem Kongreß jüngst folgendes Bild: "Es ist wie mit der Pornographie. Sie wissen es erst, wenn Sie es sehen."

Auch wenn der Begriff also noch sehr schillernd ist, verknüpft die Industrie große Hoffnungen damit: "Der PC wird künftig mit dem Fernsehen konkurieren", glaubt James Cannavino, hei IBM Chef der PC-Division: "Kinder werden demnächst PC genauso gerne benutzen, wie die Fernbedienung fürs TV, ist er überzeugt. Deshalb räumt IBM in der Kooperation mit Apple Multimedia auch einen wichtigen Stellenwert ein. Doch der Juniorpartner gibt sich damit offensichtlich nicht zufrieden. Apple will auch mit Sony, dem japanischen Giganten der Unterhaltungselektronik, gemeinsame Sache machen. Das Motto: Zwar weiß noch niemand, wo es langgeht, aber alle wollen vorne sein. Das mag an den euphorischen Marktprognose liegen. Die Forscher der Schweizer Prognos AG glauben beispielsweise, daß schon 1994 im günstigsten Fall für 35 Milliarden Dollar Multimedia-Prudukte verkauft werden können. Unherechenbar ist allerdings, ob die potentiellen Anwender tatsächlich so begeistert sein werden, wie die Schöpfer der neuen Systeme. "Bis heute hat noch niemand danach gefragt", meint ein Multimedia-Spezialist mit Sinn fürs Reale.

Unbekannte Kosten

Gebremst werden könnte die Euphorie durch jene Ernüchterung, die sich hier und da bereits auf so mancher Chefetage breitmacht. Skepsis kommt insbesondere darüber auf, ob die Kraftpakete auf den Schreibtischen bisher tatsächlich den versprochenen Nutzen gebracht haben. Um das zu klären, müßten die DV-Verantwortlichen die mit dem PC-Einsatz verbundenen Kosten nennen. Genau die aber sind den meisten völlig unbekannt, wie verschiedene Umfragen zeigen. Ist der PC volkswirtschaftlich ein Desaster?" fragt provo-zierend Klaus Kemmler, Leiter des deutschen Technologiezentrums bei Digital Equipment. Er hat ausgerechnet, daß hierzulande durch den Einsatz von PC in den Betrieben pro Jahr zwischen fünfzig und achtzig Milliarden Mark an Kosten anfallen, die niemand erfaßt. Sie entstehen unter anderem durch Fehlersuche und -behebung, Datensicherung und das Ausprobieren neuer Soft-ware. John Diebold, der populäre Chef und Vordenker der gleichnamigen amerikanischen Beratungsgesellschaft, formulierte allerdings schon vor vielen Jahren: "Jede neue Technik schafft sich ihren Markt." Das wird auch wohl so bleiben. Die nächsten zehn Jahre, das verheißt die Industrie, dürften noch aufregender werden als die vergan-gene Dekade. Und das will wirklich was heißen.